Forschungsprojekt
Unser unabhängiges Projekt besteht aus zwei Phasen.
- In der ersten Phase werden frühere Taten und der Umgang mit diesen auf Seiten der Ordensgemeinschaften und Betroffenen aufgedeckt und aufgearbeitet.
- In der zweiten Phase werden Präventions- und Weiterbildungskonzepte (weiter-)entwickelt. Dies basiert maßgeblich auf den Erkenntnissen der ersten Phase.
Erste Projektphase
Die erste Projektphase besteht aus drei Teilprojekten, die sich gegenseitig ergänzen.
Teilprojekt 1: Aufarbeitung mit den Ordensgemeinschaften.
Für das Teilprojekt 1 werden Einzelinterviews mit Ordensmitgliedern durchgeführt. In diesen Gesprächen wird der Frage nachgegangen: „Wie konnte das passieren?“ Dadurch sollen tiefergehende Erkenntnisse über gewaltbegünstigende und -erleichternde (Leitungs-) Strukturen und Haltungen gewonnen werden.
In diesem Rahmen werden verschiedene Themenbereiche behandelt:
- Rekonstruktion historischer Verläufe: Welche Tatkomplexe gab es und wie sahen Aufdeckungsbemühungen und Aufarbeitungsschritte bisher aus?
- Aktueller Umgang mit den Taten: Wie wird mit dem Wissen über die Taten umgegangen? Und wie wird mit den Betroffenen umgegangen? Hat das Geschehene Einfluss auf aktuelle Gruppendynamiken in den Ordensgemeinschaften?
- Strukturen: Welche Machtstrukturen begünstigten die Taten und wie sehen diese heute aus?
- Innere Haltungen: Welche Haltungen haben Ordensmitglieder zu eigener Schuld und der Schuld anderer, zu sexueller Gewalt und zur eigenen Sexualität mit Blick auf die katholische Sexualmoral?
- Prävention: Wie können Präventionsstrategien aussehen, und insbesondere welche Tabus existieren, die dem entgegenstehen können?
Im Anschluss vertiefen gemeinsame Gruppenworkshops mit den Ordensmitgliedern die Erkenntnisse aus einer vergangenheitsbewältigenden Perspektive. Außerdem sollen bereits existierende Präventionsmaßnahmen reflektiert und Optimierungsmöglichkeiten durchdacht werden.
Teilprojekt 2: Aufarbeitung mit den Betroffenen.
Für das Teilprojekt 2 werden Einzelgespräche mit Betroffenen geführt. Die Gespräche gehen der Leitfrage „Was brauchen Betroffene?“ nach und erarbeiten, wie ein zufriedenstellender Aufarbeitungsprozess gelingen kann. Die Gespräche sind dabei an den Bedürfnissen der Betroffenen orientiert.
Bisher waren politische Bemühungen vor allem darauf fokussiert, materielle Entschädigungen der Betroffenen zu gewährleisten. Häufig benennen Betroffene jedoch einen Wunsch nach Anerkennung ihrer Unschuld und der Schuld der Täter*innen seitens der Kirche. Angesichts dieser Diskrepanz zielen die Gespräche mit Betroffenen darauf ab, zu identifizieren, welche Ressourcen und Vorgehensweisen, aber auch welche zusätzlichen Präventionsmaßnahmen für einen zufriedenstellenden Aufarbeitungsprozess für die Betroffenen hilfreich sind.
Zentrale Fragen sind dabei:
- Wie erleben die Betroffenen den bisherigen Aufarbeitungsprozess?
- Was fehlt ihnen, um ein für sie „gutes Leben“ zu führen?
- Was können die Ordensgemeinschaften dafür tun?
- Kann es eine „Wiedergutmachung“ geben, und wenn ja, wie könnte diese aussehen?
Im Anschluss fließen die Erfahrungen und Sichtweisen der Betroffenen anonymisiert in die (Weiter-) Entwicklung von Präventionsstrategien mit ein.
Teilprojekt 3: Prävalenzforschung und systemische Analyse
Im Teilprojekt 3 werden mittels Aktenanalyse und anonymem Fragebogen Prävalenzen und der Modus Operandi der Taten erfasst und analysiert. Ziel ist es, Kenntnisse über Prävalenzen von Gewalttaten, Handlungsweisen der Täter*Innen und missbrauchsbegünstigender oder -hemmender Systemvariablen zu gewinnen.
Das Teilprojekt 3 fokussiert sich auf drei eng verbundene Themenbereiche:
- Prävalenz und Modus Operandi: Die Aktenanalyse und der Fragebogen werden genutzt um Tathandlungen, -konstellationen und -komplexe nachzuvollziehen und den Modus Operandi der Übergriffe zu erfassen.
- Kontextgebundene Analyse systemrelevanter Variablen: Die bisher erworbenen Erkenntnisse über die Taten werden eingeordnet in ihrem jeweiligen Kontext (historisch, juristisch, kirchenrechtlich und theologisch) analysiert. Dadurch werden missbrauchsbegünstigende und missbrauchserleichternde (Leitungs-) Strukturen und Haltungen identifiziert.
- Identifikation missbrauchsbegünstigender, -erleichternder oder -hemmender systemischer Organisationsvariablen: In einem retrospektiven Forschungsdesign ist es schwierig, Aussagen über Kausalität und Wirkzusammenhänge zu treffen. Daher sollen verschiedene Tatkontexte (bspw. ähnliche Einrichtungen unter unterschiedlicher Trägerschaft) miteinander verglichen werden. Aus diesen Vergleichen können möglicherweise förderliche oder hemmende Faktoren für die Entstehung bzw. Häufung von (sexualisierter) Gewalt retrospektiv abgeleitet werden.
Zweite Projektphase
Im zweiten Jahr des Projekts werden die Erkenntnisse aus der ersten Phase genutzt, um bestehende Präventions- und Weiterbildungskonzepte in Ordensgemeinschaften zu überarbeiten.
Beobachtungen und Erfahrungen aus den drei Teilprojekten fließen dabei in konkrete, praxisnahe Anwendungen.
Ein zentraler Bestandteil dieser Phase sind Workshops mit Ordensmitgliedern.
In den Workshops werden gemeinsam die Ergebnisse der ersten Projektphase eingeordnet und reflektiert. Die Ordensmitglieder sollen dabei die Möglichkeit bekommen, sich im geschützten Rahmen mit Fragen von Verantwortung, Macht und Missbrauch auseinanderzusetzen. Ziel ist es, einen Gruppenprozess anzustoßen, in dem Ordensmitglieder selbst erarbeiten, was es braucht, um ein größeres Bewusstsein für Missbrauchsthemen zu schaffen. Ein besonderer Fokus liegt auf der Frage, wie bestehende Ausbildungs- und Fortbildungsinhalte überarbeitet werden können – zum Beispiel im Priesterseminar oder in internen Schulungen.
Außerdem sollen im Verlauf des Projekts Materialien entstehen, die Aufarbeitungsprozesse unterstützen.
Was genau daraus entsteht – etwa eine Handreichung, Schulungsbausteine oder Beratungsvorschläge – wird sich im Austausch mit Betroffenen und Ordensmitgliedern prozessual entwickeln. Ziel ist es, Impulse zu geben, wie auch andere Ordensgemeinschaften oder internationale Einrichtungen ähnliche Aufarbeitungsschritte umsetzen können.